Bedürfnisorientierung ist mehr, als "Ja" sagen (ein etwas anderer Dienstagsimpuls)
Zum ersten Mal in der Reihe der Dienstagsimpulse widmen wir uns dem Blütenblatt der Bedürfnisse. Zu diesem Thema habe ich bereits zwei Artikel geschrieben, in denen ich dir erklärt habe, welche psychischen Bedürfnisse wir haben. (Du kannst sie hier nachlesen: Psychische Grundbedürfnisse I und Psychische Grundbedürfnisse II)
Aus gegebenen Anlass möchte ich an dieser Stelle etwas über Missverständnisse in der Bedürfnisorientierung berichten:
Vielleicht passiert dir das Folgende auch manchmal, obwohl du dir kognitiv darüber schon total im Klaren bist. Und doch crasht ein Bedürfnis deines Kindes dein eigenes und du bist nicht (sofort) in der Lage kompromissoffen zu sein.
Ich hatte in den letzten Wochen bemerkt, dass es meinem "Kind 2" mit einer bestimmten Sache nicht so richtig gut zu gehen scheint. Es hat das auf sehr vielfältige Weise signalisiert, fand aber für sich keine bessere Lösung, als die Situation auszuhalten. Im Gespräch darüber, wie es Kind 2 damit geht, konnte es seine Wünsche und Bedürfnisse relativ klar benennen. Ich verstand es von Anfang an, allerdings entsprachen sein Bedürfnis und sein Wunsch nicht meinen. Oder besser ausgedrückt, sie entsprachen sich, kollidierten jedoch ernsthaft mit einem meiner Bedürfnisse, so dass es mir schwer fiel, mich auf sein Anliegen einzulassen. Das Schauspiel nahm seinen Lauf und die Situation verbesserte sich natürlich nicht. Ich sprach erst mit einer weiteren, von der Situation direkt betroffenen Person über das Anliegen und ging dann wieder ins Gespräch mit Kind 2. Dieses Mal wollte ich mich auf sein Anliegen einlassen und hatte den Plan gefasst, die Entscheidung dem Kind zu überlassen. Teil des Planes war es, Kind 2 auch über meine Bedürfnisse in diesem Zusammenhang in Kenntnis zu setzen. Jetzt im Nachhinein wohl aus dem Grund, weil ich mich selbst so unsicher mit der Situation fühlte und es wohl nur machen wollte, um Kind 2 zu involvieren und ein Gefühl von Mitbestimmung zu erzeugen. Das kam auch im ersten Schritt gut an. Im zweiten ruderte das Kind in seiner Meinung zurück, weil es mich nicht einschränken wollte. Mir brach fast das Herz. Aber Kind 2 ist (jetzt in der Retrospektive) viel klarer und ehrlicher gewesen, als ich es in diesem Gespräch war. Ihm fiel auf, dass ich mich auf sein Anliegen noch nicht richtig einlassen konnte.
Zwei Tage später machte es dann endlich Klick und ich fand (durch viel Selbstreflexion und Diskussion mit mir und anderen) meinen Standpunkt. Ich suchte also ein weiteres Mal das Gespräch mit Kind 2. Dieses Mal war ich so klar und so aufmerksam ihm gegenüber, dass wir über unsere Anliegen reden konnten, auf Augenhöhe. Dabei wurde mir klar, dass ein zur Wahl stellen überfordernd war für diesen Sachverhalt (es ging eben nicht um die passende Joghurtsorte). Ich gab die Richtung vor, zu der ich kam, weil ich die Notwendigkeit und den großen Wunsch nach Ruhe und Sicherheit, sowie Verlässlichkeit erkannte in meinem Kind erkannte und als wichtiger einschätzen konnte, als mein eigenes Bedürfnis. Als ich Kind 2 ansah, bemerkte ich die leichte Entspannung, die sowohl durch Mimik und Körper huschten bevor der Kopf daran erinnerte, dass ich mich ursprünglich nicht darauf einlassen wollte. Ich bot an, dass wir einen Weg finden, der ihm gibt, was es braucht, um sich sicherer zu fühlen und was mein Bedürfnis ebenfalls erfüllen würde. Wir einigten uns auf einen Mittelweg, mit dem wir beide (zur Probe) sehr gut leben können. Dann fiel die Anspannung ab und Kind 2 konnte in Ruhe spielen gehen.
Am Abend, als Kind 2 bereits im Einschlafmodus war, wachte es wie aus einem Nachtschreck auf und weinte heftig. Es konnte sich kaum beruhigen und erzählte wild von all dem, was in seinen Augen gerade belastend ist. Als ich sagte, dass unsere gemeinsame Entscheidung wohl genau das war, was es jetzt brauchte, schaute mich Kind 2 an, hörte sofort auf zu weinen. Rieb sich das Gesicht und kuschelte sich in meinen Schoß. Binnen 2 Minuten war es wieder tief und fest eingeschlafen und sein ganzer Körper wurde in diesem Prozess von heftigen Zuckungen entspannt. Da ging einiges an angestauter Energie raus.
Was will ich dir damit sagen?
Auch wenn wir viel über Bedürfnisorientierung wissen und bereit sind uns auf unsere Kinder einzulassen, kommt es vor, dass unsere Bedürfnisse denen der Kinder entgegen stehen. Nehmt euch die Zeit und lasst es, gerade wenn es um wichtige Entscheidungen geht, nicht einfach sein darüber nachzudenken und gemeinsame Lösungen zu finden. Spüre in dich hinein, was dich da blockieren könnte und aus welchem Grund du dich nicht darauf einlassen kannst, deinem Kind bei seinen Bedürfnissen zu helfen. Solltest du einen wahren Grund finden, dann steh dazu und beziehe Stellung. Deine Bedürfnisse sind genauso wichtig wie seine.
Ein zweiter Lerneffekt war für mich, dass ich in dieser Situation dazu tendiert habe, die Verantwortung für eine gute Entscheidung aus der Hand zu geben. Oberflächlich gesehen, weil ich mein Kind partizipieren lassen wollte. Aber jetzt weiß ich, dass ich die Entscheidung nicht treffen wollte. Mein Kind konnte diese Entscheidung jedoch noch gar nicht treffen und befand sich dadurch auch in einem blöden Loyalitätskonflikt, den ich in diesem Moment nicht ernst genug genommen habe.
Durch die heftige Reaktion seines kompletten Nervensystems wurde mir die tatsächliche Anspannung, in der es sich befand, erst so richtig klar und ich bin froh, dass ich nicht locker gelassen habe.
Bedürfnisorientierung ist mehr als nur Ja sagen. Es bedeutet alle Bedürfnisse anzuschauen und zu überlegen, was jetzt wichtig ist und in welcher Weise darauf reagiert werden könnte. Es bedeutet auch, dass wir nicht an der Oberfläche stehen bleiben dürfen, sondern tiefer graben müssen, um die Anliegen und die Bedeutungen wirklich zu verstehen. Ich bin so dankbar für alle Reaktionen, die mir Kind 2 gezeigt hat, um mich auf den richtigen Weg zu bringen und ich bin stolz auf uns, dass wir diesen Prozess gemeinsam so durchlaufen haben. Wir haben beide unfassbar viel dadurch gelernt und werden künftig ganz sicher dadurch noch bewusster und feinfühliger, sowie überlegter aufeinander zugehen können.
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