missverstandene Bedürfnisorientierung

Seit einigen Jahren boomt der bedürfnisorientierte Ansatz in jeder neuen Elterngeneration. Unzählige Ratgeber, Podcasts und Seminare gibt es mittlerweile auf dem Markt, die Menschen mit diesem schönen Thema in Verbindung bringen wollen. Eine wundervolle Entwicklung, wie ich finde. Wenn sie nicht vielerorts so sehr zu Missverständnissen und Hilflosigkeit führen würde. In einer Welt, in der es nur so von Alternativen, Entscheidungen und Möglichkeiten wimmelt und man schnell die Orientierung verliert, weil Ratgeber A etwas ganz anderes als Podcast B sagt, entsteht schnell Verunsicherung. Zuweilen haben wir verlernt auf unser Bauchgefühl zu hören und hegen den großen Wunsch nach einem Geländer, einer Richtschnur, an der wir unsere Orientierung und ein gewisses Selbstverständnis wiederfinden können. Wir suchen nach Sicherheit in unserer Unsicherheit, ob wir das Richtige tun. Das trifft verstärkt auf die Beziehungen zu den Kindern zu, mit denen wir leben und vielleicht auch arbeiten. Wenn so viele Menschen etwas anderes denken, sich anders verhalten und somit anders auf kindliches Verhalten reagieren, woher sollen wir dann noch wissen, wen wir uns zum Vorbild nehmen sollen?

In solchen Situationen greifen wir gern auf für uns sinnvolle Konzepte zurück. Eines davon ist, wie oben schon angeführt, der bedürfnisorientierte Ansatz. Im Kontakt mit anderen Eltern, aber auch in meiner Rolle als Dozentin in der Erzieher*innenausbildung sehe ich immer mehr Menschen, die diesem Ansatz folgen wollen. Und das ist eine großartige Wende in der (erzieherischen) Welt. Doch erkenne ich dabei oft, dass es in diesem Ansatz gerade in der Umsetzung leicht zu einem essentiellen Missverständnis kommt. Die Idee der Bedürfnisorientierung ist, wie der Name bereits verlautet, der Ansatz an den Bedürfnissen. Und genau hier entstehen in meinen Augen die Schwierigkeiten.
 
A) Wir müssen den Willen und die Bereitschaft dafür aufbringen uns tatsächlich den Bedürfnissen der Familie oder Gruppe hinzuwenden und dabei jederzeit den schmalen Grad zwischen Wunsch und Bedürfnis zu unterscheiden oder die Art der Bedürfnisbefriedigung sinnvoll zu wählen. Ersteres ist manchmal gar nicht so leicht und fällt tatsächlich sehr vielen Erwachsenen schwer. "Ist das gerade ein Wunsch, den mein Kind hier äußert, oder betrifft es ein Bedürfnis? Und wenn es ein Bedürfnis ist, dann bitte welches? Aber wenn es ein Wunsch ist, steckt dann da nicht vielleicht auch ein Bedürfnis dahinter?" Puh, das kann schnell in Gedankenarbeit ausarten und im Alltag auch rasch in Überforderung münden. Und dann ist es leicht gesagt, dass nicht jedem Wunsch, aber doch jedem Bedürfnis nachgegangen werden sollte/ muss.
B) Wir müssen tatsächlich Kenntnisse darüber haben, was denn eigentlich die wichtigen Bedürfnisse sind. Nun gut, das steht ja genau in den Ratgebern. Aber wie äußern die sich im Alltag? Wie äußert mein/ das Kind ein spezifisches Bedürfnis? Und nicht zu vergessen: Wie kann ich helfen, das erkannte Bedürfnis dann auch tatsächlich zu befriedigen? Und sollte ich es als Erwachsener befriedigen oder sollte ich maximal helfen, dass das Kind allein seinen Weg findet, um sich gut um sich zu sorgen? Auch das sind Fragen, die gar nicht so leicht zu beantworten sind. Vor allem dann nicht, wenn, wie oben bereits angeführt eine imense Verunsicherung auf Seiten der Erwachsenen vorliegt. Wir wollen ja nicht übergriffig werden und sollen schließlich auch für Selbständigkeit sorgen.
Wenn ich mit meinen Studierenden spreche und sie in sich hineinspüren sollen, was all ihr neuerworbenes Wissen für sie bedeutet, dann ist die häufigste Reaktion die der Überforderung. "Das soll ich tun und das und das auch noch! Wie soll das denn alles gelingen?" Vor diesem Dilemma stehen jedoch nicht nur Menschen, die beruflich mit Kindern zu tun haben und dadurch auch eine gewisse Distanz zwischen sich und den begleiteten Kindern wahren können und müssen. In meinen Augen geht es gar nicht so sehr darum alles zu machen und akribisch auf die Einhaltung aller Einzelbestandteile zu achten. Es geht viel mehr darum in sich hinein zu lauschen und herauszufinden, was zu mir, meinen Werten und Vorstellungen und der jeweiligen Situation passt. Stell dir vor, dass all die tollen Ansätze und Konzepte, die du kennst, auf einem Buffettisch angerichtet sind. Es geht nicht alles zu essen. Aber es geht sehr wohl, dass du dir einen Teller vollpackst und dir von all den Leckereien genau das nimmst, was für dich passt. 
Doch zurück zum Punkt: wichtig ist, nicht darauf zu warten bis eine Situation eintritt, sondern dir immer wieder Zeit dafür zu nehmen, dich mit den Dingen in Ruhe auseinanderzusetzen. Wenn du in entspannter Atmosphäre und mit (relativ) geklärtem Kopf über Bedürfnisse und Verhaltensäußerungen des Kindes, das du begleitest, nachdenkst, dann fällt es dir in der jeweiligen Situation leichter. UND: niemand hat behauptet, dass allein die Entscheidung bedürfnisorientiert zu begleiten direkt in eine optimale Form findet. Das alles braucht Übung, Aushandlung, Fehler und Neuorientierung. Und es braucht Geduld, Nachsicht und Zeit.
C) Eigentlich das größte Missverständnis, das mir in diesem Zusammenhang immer wieder über den Weg läuft: es geht nicht nur um die Bedürfnisse der Kinder! Ja, es ist großartig, dass immer mehr Menschen erkennen, dass hinter jedem Verhalten eines Kindes eine wichtige Aussage, ein Grund steckt und der nicht darin liegt uns Erwachsene herauszufordern. Aber das, was oft dabei auf der Strecke bleibt, aber essentiell für eine wirklich gelingende bedürfnisorientierte Beziehung zwischen Menschen ist, ist der Fakt, dass du deine eigenen Bedürfnisse wieder kennenlernen musst. Viele von uns (und da nehme ich mich überhaupt nicht aus!) haben durch Erziehung und Sozialisation in irgendeiner Form gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse aus ihrem Erleben auszuklammern. Sie spüren sie nicht mehr, oder nur noch sehr schwach. Doch damit du wirklich und mit weniger Anstrengung auf die Bedürfnisse der dich umgebenden Kinder eingehen kannst, brauchst du eine Verbindung zu deinen eigenen. Und du brauchst ein gesundes Selbstwertgefühl, denn zu einer bedürfnisorientierten Entwicklungsbegleitung gehört maßgeblich dazu, dass ALLE Bedürfnisse, die gerade befriedigt werden wollen angeschaut werden. Also nicht nur die der Kinder, sondern auch deine. Ja, du brauchst einen Zugang zu deinen Bedürfnissen, weil du ohne diesen immer nur auf die Bedürfnisse der anderen schaust und dich ganz schnell überfordert fühlst. Denn in diesem Fall passiert es immer wieder, dass du dich aufopferst und zulässt, dass dein Wort und deine Grenze keine Rolle spielen. Aber genau das sorgt dafür, dass Kinder das Falsche aus dieser Begleitung mitnehmen. Sie lernen dann: "Cool! Da ist jemand, der immer zu darauf achtet, dass es mir gut geht und auch viele meiner Wünsche erfüllt." Das klingt toll! Aber weißt du, was das Kind dadurch nicht lernt? Dass ihr Gegenüber auch Grenzen und Bedürfnisse hat. Dass ihr Gegenüber nicht allein dafür verantwortlich ist, sich um seine Bedürfnisse zu kümmern und dass es schön und verbindend ist, jemand anderes ebenfalls dabei zu unterstützen seine Bedürfnisse zu deckeln. Es kann dann auch nur schwer lernen, dass es seine eigenen Bedürfnisse (natürlich altersabhängig) auch mal für einen kurzen oder längeren Moment aufschieben kann und manchmal auch muss. Das bedeutet, dass es am Ende darum geht sich alle Bedürfnislagen anzuschauen, herauszufinden, wo Schnittmengen sein könnten und wer gerade in dieser einzigartigen Situation am dringsten und schnellsten gesehen werden muss. Es geht also darum immer wieder neu zu entscheiden, zu verhandeln, Kompromisse und alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln, so dass jede/r zu seinem/ihrem Recht auf Bedürfnisbefriedigung kommen kann.

Nun soll das aber nicht bedeuten, dass du erst deinen Kram aufarbeiten musst, bevor du mit den Kindern bedürfnisorientiert leben darfst. Das wäre schade, wenn du das so verstehen würdest. Mit Kindern zu leben bedeutet mit ihnen zu wachsen und zu lernen. Gerade dann, wenn wir mit Kindern zusammen sind bekommen wir eines der schönsten (und manchmal schmerzhaftesten) Geschenke, die es im Leben überhaupt geben kann. Wir dürfen durch Selbstreflexion und Übung immer wieder neu mit uns selbst in Verbindung kommen. Und dadurch zu immer authentischeren und kongruenten Begleitern (Rogers) durch ihr Aufwachsen werden.
 
Fazit: Wenn du mit Kindern, ob als Eltern oder Pädagog*in, bedürfnisorientiert leben möchtest, dann ist es unumgänglich, dass du wieder lernst und herausfindest, was du fühlst und brauchst. Von dort aus wird eine bedürfnisorientierte Entwicklungsbegleitung authentisch und kongruent, für alle bereichernd und für dich als Erwachsenen viel einfacher. Das braucht Zeit, Geduld und manches Mal eine gute Portion Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Wird es dich manchmal frustrieren? Ja! Wirst du manchmal zweifeln, ob du auf dem richtigen Weg bist? Ohne Frage! Wird es sich lohnen? Ganz bestimmt, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Egal was andere sagen!

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