Die psychischen Grundbedürfnisse verstehen I

In meiner Arbeit, aber auch im Privaten ist eine Erkenntnis in den letzten Jahren immer mehr zu meiner Denkbasis geworden: alles was wir tun geschieht immer aus einer guten Absicht. Doch verhilft diese gute Absicht nicht immer zu einem guten Ergebnis. Dahinter steckt eine Haltung, von der Du vielleicht schon einmal gehört hast: Absolut jedes Verhalten hat seinen Grund, ganz egal ob ich es von außen direkt verstehen kann. Und vielleicht findest Du gerade, dass das im Alltag gar nicht so leicht ist, sich genau daran in herausfordernden Situationen zu erinnern. Da gebe ich Dir total recht. Vielleicht ist es auch eine ziemlich hochgesetzte Messlatte, in jeder schwierigen Situation logisch zu bleiben, stimmts? Vielleicht stolperst Du aber auch über die Formulierung "geschieht aus einer guten Absicht". Was meine ich damit? 
Ich meine damit, dass jede einzelne Reaktion, ob günstig oder nicht, einem Zweck dient, den wir nicht immer direkt erkennen können, der uns aber dienlich sein soll. Um Dir das genauer zu erklären muss ich etwas weiter ausholen:

Wir alle haben Bedürfnisse. Sie steuern uns aus unserem Unterbewusstsein und regeln unser Verhalten. Manche Menschen glauben, dass unsere Emotionen uns besonders stark beeinflussen, doch vor den Emotionen kommen noch unsere Bedürfnisse. Wir alle haben die selben Bedürfnisse, jedoch haben wir ganz individuelle Ausprägungen und Strategien gelernt, um mit ihnen umzugehen. Wenn Du das Wort Bedürfnisse hörst, dann denkst Du vielleicht als erstes an Hunger, Schlafen, Durst und den Toilettengang. Und damit hast Du schon ziemlich recht. Es ist nämlich so, dass grundsätzlich alle Lebewesen diese Bedürfnisse haben. Das sind die physischen Grundbedürfnisse, die die meisten Menschen vielleicht aus der Bedürfnispyramide nach Maslow kennen. Auf der anderen Seite und das unterscheidet uns Menschen von anderen Lebewesen, haben wir auch psychische Bedürfnisse. Und genau diese machen das menschliche Beisammensein so unfassbar spannend (für mich auf jeden Fall ;)). 
Unsere psychischen Bedürfnisse heißen:


Alles was wir tun, findet in einem Balanceversuch zwischen diesen vier Bedürfnissen statt. Und wir alle bewegen uns zu jeder Zeit zwischen diesen Aspekten. Nun hat jede/r eigene Schwerpunkte und Wege gefunden sich in diesem Feld zu bewegen. Und diese Strategien sind immer der Versuch, sich innerhalb einer Situation auf die aktuell bestmögliche Art zu verhalten. Genau das bedeutet, wie oben angeführt, dass die Strategie zum Zeitpunkt des Erlernens sinnvoll und wirksam war (sonst hätten wir sie nicht gelernt!). Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Strategie der Bedürfniserfüllung heute noch sinnvoll ist. Ein kurzes Beispiel bevor ich knapp auf die einzelnen Bedürfnisse eingehen will. 

Stell Dir vor, ein Kind hat gelernt, dass es Anerkennung von seinen Eltern erhält, wenn es im Haushalt hilft und gute Noten aus der Schule mit heim bringt. Leider reagieren die Eltern in Situationen, in denen das Kind anders handelt, als es den Eltern gefällt eher ablehnend und die Mutter zeigt dies regelmäßig durch einen kurzen Abbruch in der Kommunikation, weil sie enttäuscht ist. Bei dem Kind kommt an "Wenn ich so handle, wie ich es für richtig halte, dann kann es passieren, dass Mama und Papa mich nicht mehr lieb haben!" und das macht Angst. Um dieser Form von Ablehnung und Liebesentzug aus dem Weg zu gehen, weil das damit einher gehende Gefühl so blöd ist und weh tut, richtet das Kind seinen Fokus auf die Handlungen, durch die es Anerkennung erhält und Ablehnung vermeiden kann. Es hilft im Haushalt und strengt sich in der Schule noch mehr an, um gute Noten zu erhalten. Es trägt so zur Harmonie innerhalb der Familie bei (was nebenbei gar nicht seine Aufgabe wäre!). Seine Strategie ist demnach, viel dafür zu tun, um von außen das Gefühl zu erhalten "gut zu sein" und den Erwartungen anderer zu entsprechen, weil es so "geliebt" wird und ein sehr unangenehmes Gefühl vermeiden kann. Als Erwachsener bleibt diese erlernte Strategie bestehen. Schließlich hat sie in Kindertagen und bis heute meist gute Ergebnisse erzielt. Nun ist es aber so, dass dieser Mensch nicht gelernt hat, sich aus sich heraus für Leistung zu motivieren, sondern immer noch alles dafür tut, es den Eltern, dem Partner, den Vorgesetzten etc. recht zu machen. Vielleicht geht es sogar so weit, dass er nicht mehr spüren kann, was er selbst gerne machen möchte und so landet er im heute immer häufiger anzutreffenden Burn out oder Boreout. Er hat gelernt, dass er das, was für ihn richtig ist auf Ablehnung stößt und hat es in sich versteckt. Das macht in der Tiefe unglücklich und unzufrieden. Er fühlt sich falsch. Seine Strategie ist heute nicht mehr hilfreich. Aber sie passiert weiterhin aus guter Absicht. Und zwar für eine Selbstwerterhöhung und einem, wenn auch nur kurzen Gefühl von Anerkennung und Lob. Du siehst, dass die einstige sinnvolle Strategie, um diese Situation in der Kindheit "unbeschadet" zu durchleben, kann im Erwachsenenalter zu Schwierigkeiten und ungünstigem Verhalten führen. Dennoch geschieht es aus gutem Grund. Und so ist es mit allem was wir tun. Jede Handlung und jedes Verhalten geschieht, um im Geflecht der Bedürfnisse eine möglichst gute Grundlage zu schaffen. Das bedeutet für uns hier auf diesem Blog, dass wir uns dieses Wissen zu nutze machen können, wenn wir kindliches Verhalten, aber auch unser eigenes Verhalten verstehen lernen wollen.

Für heute möchte ich nur ganz knapp auf die vier psychischen Bedürfnisse eingehen. Im nächsten Artikel kannst Du dann etwas tiefer in die Thematik eintauchen.  

1) Bindung/Sicherheit

Unser erstes psychisches Grundbedürfnis, mit dem wir auf die Welt kommen, ist das der Bindung und Sicherheit. Alle Babys sind darauf angewiesen von ihren Bezugspersonen versorgt zu werden und in Sicherheit zu sein. Ich möchte hier noch gar nicht so tief einsteigen, aber sicher hast Du davon gehört, dass es unterschiedliche Bindungstypen gibt, je nachdem, wie es den Bezugspersonen gelungen ist auf die Äußerungen des Säuglings einzugehen. 

2) Autonomie/Kontrolle

Umso älter das Kleinkind wird, desto mehr interessiert es sich auch für seine Umgebung. Es ist mit einer natürlichen Neugier ausgestattet und möchte herausfinden, was da alles so spannendes zu entdecken ist. Dafür muss es sich aus dem engen Kontakt mit der Bezugsperson lösen und auf Entdeckungsreise gehen. Und hier kommt ein Bedürfnis ins Spiel, dass der Bindung entgegengesetzt ist, die Autonomie. Sie ist auf unterschiedliche Weise von der Persönlichkeitsstruktur des Kindes abhängig, aber auch in größem Maße von der Bindung zu seinen Bezugspersonen. Autonomie hat viel damit zu tun, selbständig, aktiv und unabhängig zu agieren.


3) Selbstwerterhöhung (Anerkennung)

Jeder Mensch möchte immer möglichst gut da stehen. Da wir Bindungswesen sind, ist es unausweichlich möglichst anerkannt in der Gruppe zu sein und nicht ausgestoßen zu werden. Das Wort Selbstwerterhöhung
lässt erkennen, dass es etwas mit unserem Selbstwert oder besser gesagt, mit unserem Selbstwertgefühl zu tun hat. Worin der Unterschied besteht findest Du dann im zweiten Artikel zu diesem Thema.

4) Lustgewinn und Unlustvermeidung

Wir alle streben danach Dinge und Situationen zu schaffen, die uns gute Gefühle bereiten, in denen wir uns richtig, sinnvoll, wirksam und wohl fühlen. Sachen, die diese Zustände nicht in uns auslösen, versuchen wir hingegen zu vermeiden. Beängstigende oder schmerzhafte Situationen wollen wir, wenn möglich, nicht erfahren. Anstrengen wollen wir uns ebenfalls nicht unbedingt gern und wenn möglich, dann sollte alles ganz leicht gelingen.

Fazit: Wir alle haben die selben Bedürfnisse.
Jedes Bedürfnis ist individuell stark ausgeprägt. 
Wir alle haben individuelle Strategien entwickelt, um diese Bedürfnisse zu erfüllen. Diese können günstig oder ungünstig sein, haben aber immer zum Ziel uns in ein Gleichgewicht und in Wohlbefinden zu bringen. Und sie sollen uns schützen. Sie erklären unser Verhalten. Selbst dann, wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind. Und sie erklären das Verhalten der Menschen, die uns umgeben. Alles Verhalten geschieht aus einem Grund. Das Wissen über die psychischen Grundbedürfnisse wird Dir helfen, Dich, Deine Kinder und Deine Mitmenschen besser zu verstehen, denn so ziemlich alles ist mit diesem Wissen erklärbar.
Ich finde das unglaublich spannend und hilfreich.

 

Lass uns das in weiteren Artikeln genauer anschauen!


Buchempfehlung: Stefanie Stahl

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