Psychische Grundbedürfnisse Teil II

 Im letzten Artikel habe ich Dir die 4 psychischen Grundbedürfnisse nach Klaus Grawe vorgestellt.
Zur Erinnerung hier noch einmal das Schaubild:


Und ich habe geschrieben, dass in der Tiefe jedes Verhalten durch diese Bedürfnisse erklärbar wird. Allein die individuelle Ausprägung und die Strategien der Bewältigung und Bedürfniserfüllung unterscheiden sich bei jedem Menschen.
Heute möchte ich auf die ersten beiden Bedürfnisse etwas tiefer eingehen, nämlich auf Bindung und Autonomie. Diese beiden gehören untrennbar zueinander und bedingen sich im Entwicklungsverlauf gegenseitig.
Im Mutterleib ist das Kind noch vollumfänglich verbunden. Da gibt es für das Kind keine Trennung zwischen "Du" und "Ich". (Ich möchte an dieser Stelle gar nicht auf die Identitätsentwicklung des Menschen eingehen, aber in gewisserweise spielt sie eine wichtige Rolle im Kontinuum zwischen Bindung und Autonomie.) Wird das Kind geboren, ist es überlebenswichtig für dieses, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten und sicher zu sein und sich sicher zu fühlen. Anfänglich ist dies gar nicht so leicht, denn das Kind hat nur wenige Möglichkeiten seine Bedürfnisse zu kommunizieren und ist darin auch noch komplett abhängig, dass die Bezugspersonen erkennen, wofür die Zeichen und Äußerungen stehen und was der Säugling benötigt. Je nachdem, wie das Kind in seiner individuellen Persönlichkeit "gestrickt" ist und wie verlässlich und rasch die Bezugspersonen die Kommunikation des Babys lernen und darauf eingehen, entwickelt das Kind sein Bindungsschema. Auch hierauf möchte ich nicht so genau eingehen, da dies hier den Rahmen des Artikels sprengen würde. Wenn Du aber mehr dazu erfahren möchtest, dann empfehle ich Dir folgende Seite: Bindungstypen nach Bowlby
Für heute ist es nur wichtig, dass diese beiden Aspekte die Hauptbedingungen für das Bindungsschema darstellen, die dieses Kind nun fortan in sein Leben mitnimmt. Es macht also einen Unterschied, ob das Kind zum Beispiel eher introvertiert oder extrovertiert ist, wie sich seine neuronalen Erregungsmuster entwickeln (was ebenfalls von den Reaktionen der Außenwelt mitbeeinflusst wird) und wie gut es lernen kann sich selbst zu regulieren. Unabhängig davon kommen wir alle mit einem individuellen Maß an Bindungswunsch auf die Welt. 
Wachsen wir, kommt ein zweiter Prozess in Gang, der uns nach außen zieht. Das Autonomiebestreben ist ebenfalls wieder von der Persönlichkeit des Kindes und der Reaktionen im Außen abhängig. Also von dem Verhalten der Bezugspersonen, aber auch von den Gegebenheiten und Gelegenheiten, die das Kind erfahren kann. Es wird mit einer Neugier auf das Leben geboren und möchte spielerisch und forschend erfahren, wie die Welt funktioniert und was sie zu bieten hat. Je nachdem, welcher Bindungstyp sich bis hierher entwickelt hat, wird das sehr unterschiedlich durch das Kind passieren. Das bedeutet, dass die Grundstimmung, bestehend aus der eigenen Persönlichkeit, dem Bindungsschema und den äußeren Eigenschaften, darüber maßgeblich entscheidet in welcher Form das Kind in die Welt sieht und geht. Du kannst Dir sicher gut vorstellen, dass es einen Unterschied macht, ob das Kind sich sicher fühlt und Lust darauf hat neue Sachen zu entdecken. Oder ob es immer sehr stark daran ausgerichtet ist, im Kontakt mit der Bezugsperson zu sein, um möglichst viel Bindung zu halten. Dieses Kind wird sich sehr wahrscheinlich nicht sehr sicher fühlen. In der Pädagogik und Psychologie spricht man hier vom Bindungsverhalten. Ist dieses hoch ausgeprägt, also fühlt sich das Kind nicht sicher in einer Situation, wird es primär daran arbeiten Kontakt, Verbindung und Sicherheit zu suchen, als sich daran orientieren zu können, was die Welt zu bieten hat. Neues kann dann komplett unwichtig oder auch eher beängstigend erscheinen. Vielleicht hast Du schon einmal in diesem Zusammenhang von dem Bild einer Waage gehört, auf dessen einer Waagschale die Bindung liegt und auf der anderen das Explorationsverhalten (der Wunsch nach außen zu gehen und die Welt zu erkunden). In diesem Bild wird dargestellt, dass der Mensch immer ein gewisses Maß an Bindung und Sicherheit benötigt, um explorieren (entdecken) zu können und zu wollen. Ist also der Bindungswunsch hoch, geht das Kind und auch später der erwachsene Mensch nicht selbstsicher nach außen. Das kann, wie oben bereits erwähnt an seiner Persönlichkeit liegen, an seiner unsicheren Bindung, aber auch daran, dass die Situation generell überfordernd ist, also auch bei generellem Stress. Auf der anderen Seite wird das Kind explorieren wollen, wenn es sich sicher und wohl fühlt. Dafür braucht es Verlässlichkeit und das Gefühl von Orientierung und Geborgenheit. Dabei geht es nicht darum, wie der begleitende Erwachsene eine Situation einschätzt, sondern wie das Kind sie einschätzt. Dein Kind braucht immer seine ganz eigene Begleitung in die Welt. Losgelöst, von dem, wie Du fühlst. Das kann bedeuten, dass Du von Deinem Kind vielleicht auch manchmal zu viel erwartest oder aber ihm nicht ausreichend zumutest, weil Du selbst eher unsicher in bestimmten Situationen reagierst. Beide Seiten sind jedoch essentiell für die Entwicklung des Kindes. Dass es sich sicher und geborgen fühlt und weiß, wo sein "sicherer Hafen" ist. UND dass es raus in die Welt geht und selbstwirksam handeln kann. Jeder Mensch braucht diese Form von Stimulanz, Neues zu lernen, sich selbst in der Welt zu finden. Darum geht es bei Autonomie: der Mensch will wirksam sein, etwas bewegen können, Einfluss nehmen können und darüber Kontrolle erfahren. Fehlt uns diese Kontrolle, dann kann das bis hinein in Ohnmachtsgefühle und Krankheit gehen (lies hierzu meinen Artikel zur Salutogenese "Umgang mit Herausforderungen"). Dieser Kontrollverlust ist wiederum nur regulierbar, wenn wir wieder Sicherheit durch Bindung finden. Zu uns selbst oder einer anderen Person. Um ein gutes und ausgewogenes Leben zu führen benötigen wir also ein sich immer wieder neu auswiegendes Verhältnis zwischen Bindung und Autonomie.

Wie Deine Balance ausfällt hat da eine entscheidende Bedeutung für die Balance der Kinder, die Du durchs Leben begleitest. Bist Du prinzipiell eher auf der Bindungsseite, dann wird es Dir vielleicht schwerfallen, wenn Dein Kind autonom handelt, selbständig wird, seinen Willen durchsetzen will, seine eigene Meinung vertritt. Denn das sind alles Handlungen, die in Dir ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bindungsverhalten auslösen können. Je nach Deiner Prägung könnte es sein, dass Du dann sehr traurig wirst, Angst empfindest, dass Dein Kind Dich nicht so mag, oder Du könntest Dich zurückziehen oder aber sehr schnell nachgeben, aus Angst, die Beziehung könnte in Gefahr sein. Oder Du bist eher auf der autonomen Seite und Dein Kind sucht verstärkt nach Nähe und Rückversicherung. Dann könnte es sein, dass Du eher ablehnend reagierst, unruhig wirst, genervt bist, weil es Dinge selbst schaffen muss oder wütend wirst, weil Du Dich eingeengt fühlst. Andersherum wird das eben auch auf das Kind zutreffen.

Wenn Du magst, dann schau Dir doch mal Deine eigene Balance zwischen diesen beiden Bedürfnissen an. Und auch die Deines Kindes. Wo steht ihr beide? 

Wenn Du mehr zu dieser Thematik erfahren möchtest, dann empfehle ich Dir die Bücher von Stefanie Stahl. (Hier) Vor allem empfehle ich Dir das Buch "Nestwärme, die Flügel verleiht". 

Fazit: Bindung und Autonomie sind untrennbar miteinander verknüpft und tief in unserem System verankert. Selbst wenn wir denkend anders handeln wollen, sind die frühen Muster ziemlich stabil. Das bedeutet aber nicht, dass Du überhaupt nichts daran verändern kannst. Grundsätzlich ist aber ein erstes Erkennen und Annehmen wie Du bist, viel wichtiger, als etwas verändern zu wollen. In Beziehungen jeder Art, aber vor allem in denen zu unseren anvertrauten Kindern zeigen sich, in Wechselwirkung, welche Ausprägungen wir auf der Bindungs- und der Autonomieseite haben. Beide sind immer da, jedoch ist eines meist stärker ausgeprägt als das anderen. Was erzählt Dein Verhalten? Was erkennst Du im Verhalten Deines Kindes?
Umso besser Du Dich selbst erkennen kannst, desto besser kannst Du auf das Verhalten Deiner Mitmenschen eingehen. Doch warte nicht, bis Du umfänglich Deine Bedürfnisse erkennen kannst, bevor Du Dich auf den Weg machst, die der Kinder um Dich herum erkennen zu üben. Ich verstehe Entwicklungsbegleitung als einen ko-konstruktiven, also gemeinsam lernenden, Prozess, in dem wir alle gemeinsam immer wieder neue Erfahrungen und Erkenntnisse über uns, unsere Kinder und die Welt sammeln und so immer fort wachsen.

Liebe Grüße, Katja 🥰

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