Urlaub, Bedürfnisse, Elternstress und Adultismus
Vorne weg: Ich möchte keine Eltern an den Pranger stellen, schreibe meine Gedanken nicht, um andere Eltern abzuwerten oder mich besser darzustellen. Ich schreibe diesen Beitrag, weil ich die beschriebenen Situationen genau so erlebt habe und sie in Teilen auch von mir kenne. Doch möchte ich sie alleinig als "Lernsituationen" nutzen, um Verhalten verstehbarer zu machen. Das sehe ich als meine Aufgabe mit diesem Blog.
"Du hörst jetzt, was ich sage!", "Aber ich will noch...", "Nein! Ich sage, du hörst jetzt! Oder wir gehen hier weg!"
Solcherlei Sätze habe ich während meiner Zeit im Urlaub wirklich viele gehört.
Oder folgende Situation:
Ich bin mit meinen Kindern, die unfassbar gern miteinander "streiten" (dazu habe ich bereits einen Artikel "Die lieben Geschwisterstreitigkeiten" geschrieben) am Strand. Beide toben im Wasser und ich werde unfreiwillig Zeugin folgender Situation:
Eine fünfköpfige Familie kommt an den Strand. Zwei Brüder beginnen rasch nach der Ankunft um eine Schaufel zu streiten. Die Mutter blickt angestrengt auf und entscheidet schnell für den älteren Sohn, der ihrer Meinung nach Recht hat: "Hör auf und lass los!", sagt sie zu dem jüngeren Kind. "Lass los, ansonsten ziehen wir uns wieder an und ich gehe mit dir hier weg." Der knapp 3 Jährige lässt ohne weiteres Murren los und beginnt für sich allein ein Spiel. Ca. 5 Minuten später sind die beiden älteren Jungen dabei eine Sandburg am Wasser zu bauen und der jüngere Bruder kommt hinzu und beginnt mit zu bauen. Nach knapp einer Minuten schaut nun der Vater, der es sich gerade auf der Decke bequem gemacht hatte, zu den lauter werdenden Jungen (sie verabreden gerade, wer was wie baut). Der Vater beginnt zu schimpfen, dass der jüngere Sohn die Sandburg nicht kaputt machen soll. Er hört nicht auf die Einwände der älteren Jungen, dass das schon ok sei und der Bruder ja helfen würde. Das Ganze braucht 3 "Runden", bis auch die Mutter dem Vater sagt, dass der Jüngste nur hilft. Der sagt zu der ganzen Sache nicht ein Wort. Der Vater winkt ab. Er fühlt sich scheinbar missverstanden und grummelt etwas in sich hinein, dass der Jüngste am Ende ja doch nur alles kaputt machen wird. Als abschließender Satz kommt dann die dahinterliegende Thematik zum Ausdruck: "Spielt halt, aber möglichst nicht hier bei mir. Ich will meine Ruhe!"
Ich bin überrascht, was da gerade passiert ist. Nein, tatsächlich macht es mich wütend und traurig. Es trifft mich, wie die Eltern reagieren und wie "entspannt" die Jungen dieses elterliche Verhalten hinnehmen. Wie wenig sie sich dagegen wehren und ein Verständnis für ihre Handlungen einfordern. Das kenne ich von meinen Kindern nicht. Ich frage mich, ob die Kinder schon immer nahezu unbeteiligt darauf reagiert haben, oder ob sie aufgegeben haben, für ihre Rechte einzustehen, da es in ihren Augen keine positiven Reaktionen darauf gab. Aus Angst Ärger mit den Eltern zu bekommen, wenn sie Widerworte geben würden. Die oberen Sätze funktionieren ähnlich. Hier hat jedoch das Kind ("Aber ich will noch...") zumindest noch den Ansatz von eigenem Willen. Ich stelle mir in solchen Situationen immer vor, ob wir wirklich das für unsere Kinder wollen, was wir ihnen mit solchen Aussagen und Verhaltensweisen mitgeben. In Bezug auf die ersten oben angeführten Sätze erfährt das Kind, dass der eigene Wunsch oder Wille irrelevant ist und alleinig die Bedürfnisse der Mutter gerade wichtig sind. Es bekommt gespiegelt, dass der Ausdruck des eigenen Willen weniger wichtig ist und nicht zum Ziel führen wird und dass es immer Menschen gibt, die das Recht haben, ihm über den Mund zu fahren. Es erfährt den Wert, dass es Menschen gibt, die das Sagen haben und Menschen, die diesem Sagen immer und umgehend zu gehorchen haben. Da bleiben dem Kind nur wenige Möglichkeiten. Entweder entscheidet es, dass es sich immer möglichst schnell unterordnen muss, um nicht anzuecken. Oder es entscheidet, dass es so schnell wie möglich die aufgestaute Wut (als Folge des eigenen Ohnmachtsempfindens) an "schwächere" Menschen weitergeben muss und sein Erwachsenenleben genau so gestalten will. Nach dem Motto: "Wenn ich erstmal erwachsen bin, dann zwinge ich anderen auch meinen Willen auf!" Wenn dieses Kind Glück hat und im Laufe seines Lebens auf Menschen trifft, die es anders machen und die Handlungen von Erwachsenen auch mal in Frage stellen, dann könnte es noch einen weiteren Weg geben, auf dem das Kind zu der Einstellung gelangt, dass es nicht gut ist, wenn man in dieser Form übergriffig ist, sondern, dass jeder Mensch ein Recht auf seine Gefühle und Bedürfnisse hat und seine Wünsche äußern darf. Und dass ein gutes Zusammensein aus Kommunikation und gegenseitigem Verstehen und Eingehen gestrickt ist. Doch hier kamen keine nachvollziehbaren Erklärungen von der Mutter. Sie äußert nicht ihre Gründe für ihr Verhalten, ihre dahinterliegenden Bedürfnisse und Gedanken. Und sie fragt den Jungen nicht, was er braucht, um zufrieden zu sein und eine gemeinsame Lösung für die unterschiedlichen Bedürfnisse zu finden. Sie will selbstwirksam sein und verhindert, dass er es auch sein kann. Da ist gerade kein Raum für gegenseitiges Verständnis.
In der zweiten Situation, mit den beiden Brüdern, die um eine Schaufel streiten, bekommen die beiden Jungen gar nicht die Möglichkeit, ihre konträren Wünsche miteinander auszutragen. Sie haben nicht die Chance herauszufinden, wie sie beide diese Situation auflösen können. Und sie erfahren durch die Reaktion der eingreifenden Mutter, dass es immer eine Art "Ringrichter" gibt, der ohne Erklärungen von außen, scheinbar willkürlich darüber urteilen darf, wer richtiger ist als der andere. Und dass man dieser Weisung folgen muss, um nicht bestraft zu werden. Auch dass es jemanden gibt, der die Macht hat zu entscheiden, ob ich nun nach 5 Minuten wieder vom Strand weggehen muss, ob ich das will oder nicht. Das jüngere Kind erfährt dadurch auch, dass es falsch ist, an einer Sache beharrlich dran zu bleiben, wenn man sie unbedingt möchte. Also dass es sich nicht lohnt für etwas zu kämpfen, was einem in diesem Moment wichtig erscheint. Im weiteren Verlauf wird klar, dass die Eltern dem jüngeren Kind eine ganz besondere Position und Rolle zuweisen, die des Zer-Störers. Möglicherweise war der Tag mit den drei Kindern besonders herausfordernd und gerade das jüngere Kind fiel ihnen vermehrt durch "übergriffiges" Verhalten auf. Sehr viel wahrscheinlicher (das mache ich an der unbeteiligten Reaktion des Jungen fest und den vermehrt auf ihn projizierten negativen Reaktionen der Eltern), dass die Wahrnehmung der Eltern stark fokussiert auf mögliches Fehlverhalten der Kinder und besonders dieses einen Jungen ist. Es also an den Deutungen und der Haltung der Eltern liegt, wie sie auf ihn reagieren. Der letzte Satz, den der Vater sagt und die Art und Weise der Reaktionen der Eltern macht klar erkennbar, wie herausgefordert und genervt sie sich fühlen müssen. Wie erschöpft und ruhebedürftig sie zu sein scheinen. In unserem So-Geworden-Sein ist das für viele Eltern/ Erwachsene klar nachvollziehbar. Jeder Mensch hat seine Geschichte, die seiner Familie, seines Lebens und die aktuelle Tagesgeschichte. Aber in allen hier beschriebenen Situationen wird deutlich, dass die Eltern sich und ihren Bedürfnissen und ihrem Willen mehr Raum geben, als denen der Kinder. Da ist zum einen die tiefliegende Ohnmacht der Mutter, die etwas anderes als ihr Kind will und von diesem verlangt, jetzt sofort seinen eigenen Willen abzulegen und ihrem zu folgen. Sie findet keinen anderen Weg, um mit der Situation und dem empfundenen Zwiespalt umzugehen. In ihren Augen scheint sie im Recht zu sein und das Kind hat sich, weil es jünger und unerfahrener ist, unterzuordnen. Das nennt man Adultismus. Auch die Idee, dass die anderen Eltern sich immer wieder in die Handlungen der Kinder einmischen, zeugt genau von dieser Haltung: Ich Erwachsener weiß, was gerade Phase ist und wie sich alle hier zu verhalten haben.
Doch betrachten wir die beschriebenen Situationen mal aus einer neuen Perspektive. Es sind die selben Handlungen, aber die Kinder sind Freunde im selben Alter wie die Eltern. Niemand von den Eltern hätte sich auf diese Art geäußert. Und kein anderer Erwachsener hätte sich mit den Äußerungen der Eltern wohlgefühlt. Sie hätten sich dagegen gewehrt. Die Kinder haben dies nicht getan, weil sie, im Gegensatz zu anderen Erwachsenen in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern stehen. Sowohl materiell, als auch emotional. Erwachsene könnten sich abwenden und vielleicht gehen, wenn ihre Freunde (hier die Eltern) sich ihnen gegenüber so benehmen würden. Und ganz ehrlich, ich würde das tun. Kinder haben diese Wahl nicht.
Was diese Eltern nicht bewusst erleben ist eine wichtige und von außen sehr einfache Logik: in den beschriebenen Situationen treffen unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander. Die Mutter, die nach Hause möchte und der Sohn, der noch weiter am Wasser spielen will und sich wahrscheinlich dabei nass machen könnte. Doch genau das will die Mutter nicht. Die zweite Mutter, die möglicherweise keine Streiterein mehr ertragen will und deshalb eingreift und bestimmt, wer die Schaufel bekommt. Sie gibt sich so resolut, dass keine Widerworte zulässig sind. Ruhe ist! Punkt aus! Der Vater, der den "Lärm" der Kinder alarmiert wahrnimmt und schnell einen Übeltäter identifizieren will, damit möglichst schnell wieder Ruhe und Entspannung für ihn einkehren kann. Allein die Idee, dass ihre Reaktionen richtig sind zeigt, wie tief der Adultismus in ihnen verankert zu sein scheint.
Derweil bemerke ich, dass mir ähnliche Situationen auch viele Male passiert sind. Und das nicht nur vor "viiielen Jahren" und jetzt nie mehr. Auch heute noch bin ich in manchen Situationen überlastet, angestrengt, genervt, frustriert und lasse es manchmal an meinen Kindern aus. Dann explodiert die Geduldsschnur und ich meckere, dass es mir zu viel ist. Doch dann wird mir klar, was passiert und wer hier gerade eigentlich die Atmosphäre schreddert. Ich stelle während der Beobachtungen am Strand fest, dass meine Kinder da komplett anders als diese Kinder reagieren. Und das liegt vor allem an meinen Reaktionen. Ich entscheide immer öfter, nicht wieder anklagend zu reagieren, wenn sie streitend ankommen, sondern ruhig bleiben zu wollen und sie in ihrer "Not" ernst zu nehmen. Als erwachsene Arbeitnehmerin möchte ich meiner Chefin oder Kollegin ja schließlich auch sagen dürfen, dass ich mich über etwas geärgert habe und möchte dabei ernst genommen werden. Das schlimmste wäre dann, wenn diese dann genervt reagieren, weil ich wieder mal komme, um etwas über mich mitzuteilen. Das werde ich aber nur äußern, wenn ich bereits als Kind erfahren habe, dass es sicher ist, wenn ich meine Gefühle und Bedürfnisse anspreche. Habe ich hingegen gelernt, dass meine Worte nicht zählen, dann bin ich als erwachsener Mensch sehr wahrscheinlich davon überzeugt, dass es keinen Sinn hat die Chefin oder Kollegin anzusprechen.
Ich möchte meine Bewertungen, ob eine Reaktion jetzt angemessen ist oder nicht außen vor lassen. Ich möchte, dass meine Kinder, so oft es mir gelingt, die Erfahrung machen, dass sie äußern dürfen, was sie ärgert und womit sie sich unwohl fühlen. Ich möchte nicht, weil sie so oft dafür angemeckert wurden, dass ihr System an dieser Stelle runterfährt und sie sich nicht trauen etwas zu sagen, aus Angst es gibt Ärger.
Ich möchte, dass sie sich ernstgenommen und begleitet fühlen. Dass sie verstehen, dass auch Erwachsene sich manchmal falsch verhalten und dass eine Entschuldigung immer möglich ist. Ich möchte, dass sie wissen, dass ihre Bedürfnisse und Gefühle wichtig sind und Raum haben dürfen. Nicht mehr als meine, aber eben auch nicht weniger.
Der Grundtenor, den die betrachteten Erwachsenen aussendeten und der Vater auch tatsächlich in Worte fasste, war: "Spiel, aber fall mir nicht zur Last! Ich will meine Ruhe!" Darin sind für mich zwei wichtige Aspekte zu erkennen, die mir immer wieder begegnen und die sicher auch schon die Generation meiner Eltern betraf:
1) eine bestimmte Einstellung zum Zusammenleben mit Kindern (Adultismus: ich bin der Erwachsene, ich weiß, was richtig und angemessen ist und meine Bewertung steht über deinen Wünschen.)
2) der eigene Erholungsdrang, das Stresslevel, die Überarbeitung und der immerwehrende Overload.
Aber ist das die Stimmung, die wir den Kindern mitgeben wollen? Wir Erwachsenen sind für unsere Erwartungshaltung, unser Verständnis von Kindern/ Familienleben und unser Stresslevel verantwortlich und das sollten wir auch für uns selbst klären, ohne unsere Kinder dafür verantwortlich zu machen. Bevor unsere Kinder zur Welt kamen, wussten wir bereits, dass Urlaub und Alltag mit Kindern anders sein würde und wir neue Formen der Entspannung finden müssen. Und ich möchte daran erinnern, dass unser Alltag ihre Kindheit ist und dass unsere Urlaube ihre Kindheitserinnerungen maßgeblich prägen werden. Ich erinnere mich an jeden Urlaub. Sie sind in mein Wesen eingebrannt und so wird es auch für die beschriebenen Kinder sein. Welche Erinnerungen werden diese Kinder in ihr Erwachsenenleben mitnehmen? Was werden die Kinder im Umgang mit anderen Menschen als normal empfinden? Wie werden sie über sich selbst denken?
Diese Eltern sind nicht boshaft. Sie handeln so, wie sie es für die Entwicklung ihrer Kinder für richtig und sinnvoll halten. Leider haben sie dabei nicht im Blick, was ihr eigenes Verhalten als Vorbild für Erwachsenenverhalten an ihre Kinder weitergibt. Und sie erkennen nicht, welche Glaubenssätze ihr Verhalten in ihre Kinder setzt. Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder erfolgreich und glücklich sein werden, wenn sie Erwachsene sind. Sie bemühen sich, ihren Kindern Gutes mitzugeben. Das trifft ganz sicher auch auf die beschriebenen Eltern zu. Doch in diesen Fällen ist dieses Vorhaben nicht geglückt.
Was möchtest du in deine Kinder pflanzen?
Ich finde, es wird Zeit, dass wir als Erwachsene mehr Verantwortung für unsere Wahrnehmung, unsere Bedürfnisse und Emotionen sowie die Beziehungsqualität mit unseren Kindern übernehmen.
Deshalb berichte ich von solchen Beobachtungen.
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