Die lieben Geschwisterstreitigkeiten
In einem Gespräch mit einer Freundin kamen wir auf unsere Ferienkinder zu sprechen. Darauf, dass uns gerade auffällt, wie oft sie sich streiten, sticheln und herausfordern.
Ich sagte ihr dann, dass es uns doch gerade deshalb so auffällt, weil wir alle plötzlich so viel Zeit miteinander haben in den Ferien. Zeit, die im Alltagsstress und all dem Beschäftigt-sein in der Schulzeit nicht da ist. Aber auch deshalb, weil wir Erwachsenen diese Sticheleien so ernst nehmen. Wir sehen sie als Konflikte. Doch sind sie es wirklich immer? Sie fallen uns auch deshalb auf, weil wir uns oft viel zu verantwortlich fühlen und den Wunsch haben, dass das Leben unserer Kinder so harmonisch wie möglich verläuft. Also auch deshalb, weil wir andere Erwartungen an die schöne Sommerferienzeit und das Verhalten unserer Kinder haben. Doch vergessen wir darüber, dass keine einzige andere Beziehung so strukturiert ist, wie eine Geschwisterbeziehung. Allein diese ist auf eine besondere Art nicht aufkündbar. Vor allem im Kindesalter. Keine andere Beziehung ist so sehr Übungsmatte für Konfliktfähigkeit, soziale und emotionale Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen. Hier können Kinder argumentieren, streiten, gegenseitiges Sorgen, verhandeln, Grenzen setzen und mit ihnen spielen, verzeihen, emotionalen Ausdruck und den Umgang mit verletzt sein trainieren. In Beziehungen mit Freunden würden wir uns nie so frei und offen zeigen, weil wir (unbewusst) spüren, dass der Freund eine Wahl hat, Zeit mit uns zu verbringen. Wenn wir nun also dort alles rauslassen, dann könnte es passieren, dass dieser Freund geht. Auch die Beziehung mit Eltern ist gänzlich anders geprägt, auch wenn beiden Beziehungen (zu Geschwistern und zu Eltern) die unaufkündbare Verbindung gemeinsam ist. Doch in der Beziehung zwischen einem Kind und seinen Eltern besteht ein Gefälle an Macht (ja auch für die Eltern, die bedürfnisorientiert begleiten und das Machtgefälle sehr verkleinern, wird es immer bestehen bleiben. Und das ist auch sinnvoll, dass wir Erwachsenen "Leitwölfe" (Jesper Juul) sind.). Und diese Diskrepanz kann für das Kind bedeuten, dass es sich selbst zurücknimmt, um nicht die Beziehung zu den Eltern zu gefährden. Zusätzlich besteht bis zum Jugendalter neben dieser emotionalen und materiellen Abhängigkeit auch die Überzeugung, dass Eltern (wenig) fehlbar sind. Die meisten Kinder würden eher ihre Bedürfnisse aufgeben, als die Bindung zu ihren Erwachsenen.
Allein die Beziehung zu Geschwistern ist von allen Bedingungen losgelöst. Unser Bruder oder unsere Schwester befindet sich in der selben Situation wie wir, er/sie kann nicht einfach entscheiden zu gehen, aber ein Liebesentzug von ihnen trägt nicht so schwer, wie der durch Eltern und andere Bezugspersonen. Deshalb können Geschwister genau in dieser Konstellation alles ausprobieren. Jede soziale Finesse, aber auch jede Gemeinheit.
Ich möchte zurück zu einem Punkt vom Anfang kommen: viele Eltern stören sich an Geschwisterstreitigkeiten. Oft bin ich auch selbst sehr herausgefordert von denen meiner eigenen Kinder. Doch stelle ich mir immer häufiger die Frage, warum es mich so nervt. Dann komme ich meist zu der Antwort, dass ich die Streitthemen für unsinnig halte. Bähm, da ist sie- meine Bewertung dessen, was gerade passiert. Gerade diese Bewertung macht es mir doch aber schwer die Bedeutsamkeit zu sehen, die die Kinder dieser Situation geben. Ich komme mit meiner Erwachsenenlogik und vergesse anzuerkennen, dass die Kinder einfach andere Themen haben, die für meine Entwicklung eben nicht mehr wichtig sind, für ihre aber schon. Dass ihr Weltbild ein anderes ist, ihr emotionales Erleben ebenfalls. Ihre Wahrnehmung und "Wahrgebung" von Handlungen des anderen zusätzlich noch. Ich gebe vor, was Grund für einen Streit sein darf und was nicht. Ich spreche den Kindern die eigens gegebene Bedeutung ihrer Situation ab. Zusätzlich erkennen viele Erwachsene nicht, dass nicht jede Stichelei oder jeder Streit ein handfester Konflikt zwischen den Kindern ist. Deshalb wäre es beispielsweise sinnvoll, wenn du für dich überprüfst, weshalb du dich davon so beeinflusst fühlst. Dürfen in deinem Erleben Streits stattfinden? Oder empfindest du sie als bedrohlich? Wie gehst du mit Unstimmigkeiten oder Konflikten in verschiedenen Beziehungen um? Hast du gelernt zu argumentieren, dich zu entschuldigen, dich zu vertragen? All das hat Einfluss auf die Konfliktfähigkeit deiner Kinder und deinen Umgang mit ihnen. Kommen wir zum Schluss noch auf den Drang vieler Erwachsener zu sprechen, sich in Geschwisterstreitigkeiten einzumischen. Viele ärgern sich darüber, dass ihre Kinder zu ihnen kommen und sich darüber beschweren, dass der andere etwas blödes gemacht oder gesagt hat. Dies passiert zum Teil deshalb, weil deine Kinder deine Hilfe wollen. Vielleicht weil du dich bereits früher als Streitschlichter oder Richter bewährt hast. Das bedeutet aber auch, dass du möglicherweise mit deinen Interventionen deinen Kindern zu verstehen gegeben hast, dass sie sich nicht allein helfen können, sondern deine Hilfe brauchen. Könnte es also sein, dass deine bisherigen Einmischungen nun dazu geführt haben, dass deine Kinder sich Hilfe suchend oder beschwerend an dich wenden? Damit läge der Ball der Verantwortung an deinem Genervt-sein also in deinem Feld. Fühlt sich nicht ganz so prickelnd an, was? Finde ich auch. Zum anderen ist es so, dass wenn Kinder zu dir kommen, dann wollen sie noch gar nicht, dass du etwas klärst. Sie wollen in erster Linie gesehen und gehört werden. Sie wollen sich quasi bei dir "auskotzen" und Druck (Beschwerde) loswerden. Wie sehr wird dadurch aber dein "Appellohr" (Schulz von Thun- das vier Ohren Modell) angesprochen? Auch Einwände aus dem "Off", also von der Seitenlinie, die manche Erwachsene so gern einstreuen: "Boah, ihr streitet ja schon wieder! Könnt ihr nicht mal nett zueinander sein?" (🙈) müssten ebenfalls nicht sein. Zum einen zeigen sie wieder unsere Geringschätzung für das kindliche Erleben und zum anderen würden wir das bei streitenden Freunden oder Kollegen auch nicht tun. Wir würden uns unseren Teil denken und später mal in einer ruhigen Minute ansprechen, was denn da los gewesen sei. Stell dir mal vor, dein Kind steht neben dir, wenn ihr Eltern euch streitet und sagt mit diesem speziellen Unterton: "Boah, ihr streitet ja schon wieder über solche Nichtigkeiten. Jetzt vertragt euch mal wieder. Ist doch halb so schlimm! Immer dieses Gezanke untereinander!" Und Recht hätte es! Am Ende bleibt: nimm deine Kinder ernst, sprich ihnen ihre Verantwortung und Sicht der Dinge nicht ab. Sieh Geschwisterstreits nicht als Bedrohung, sondern als hervorragende Übungsmöglichkeiten für so viele Kompetenzen, die deine Kinder in keiner anderen Beziehung so hemmungslos üben könnten. Nimm deine Meinung und deine Kommentare zurück. Wende dich zu, wenn es nötig ist, aus Sicht der Kinder oder zur Wahrung von Grenzen der streitenden Parteien. Besprecht außerhalb des Streits, wenn die Emotionen vor sich hin plätschern, was das mit jedem von euch macht. Und ansonsten halte dich "einfach" raus. Auch wenn das manchmal eben nicht so einfach ist. Sei dir im Klaren, dass das dann aber deine Baustelle ist, an der du arbeiten darfst, nicht die deiner Kinder.
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