Zurück zur Intuition?


Alexandra Köhler stellt in ihrem Buch "Echte Nähe zum Kind" (Kösel) folgende Fragen: Woher wissen wir, was gute Erziehung ist? Woher wissen wir, was richtig und falsch ist? Woher wissen wir, wie Beziehung sein sollte und wie sie funktioniert? All das und noch so vieles mehr wissen wir vor allem von unseren Eltern und die wiederum (meist noch deutlich unreflektierter als wir) von ihren eigenen Eltern. Dabei denken wir oft, das sei unsere Intuition. Doch die liegt noch darunter vergraben. Denn zu dem Schuttberg, der über unserer Intuition liegt, gehören auch all die gesellschaftlichen Werte, Normen und Bilder, die uns beeinflussen.
Wenn wir unseren eigenen Weg gehen wollen und unseren Kindern wirklich auf einer tief menschlichen Ebene begegnen wollen, dann dürfen wir anfangen diesen Schuttberg, der auf unserer Intution lastet, in Augenschein zu nehmen. Seine Einzelteile kritisch zu befragen und abzubauen, was uns schwächt und beeinträchtigt. Dann erst finden wir wieder zu unserer wahren Intuition zurück. Dann erst können wir unseren Weg sehen und gehen. Doch das nicht erst am Ende, wenn wir alle Altlasten aufgearbeitet haben und der Schuttberg endlich gegeschafft ist. Sondern in jeder einzelnen Minute, an jedem einzelnen Tag. Denn es ist für die Beziehung zu deinem Kind nicht wichtig und auch nicht möglich allen Schutt wegzukriegen. Aber es ist sehr wohl wichtig, jeden Tag zu üben und dich liebevoll und in deinem eigenen Tempo mit dem Scheiß auseinander zu setzen. Denn, und das verrate ich dir, in diesem scheiß Schuttberg sind auch wahre Schätze vergraben und zusätzlich wirst du durch jeden Schritt endlich aufhören, an deinem Kind "herumzudoktorn" und kannst es die Person sein lassen, die es ist.
Sein wir doch mal ehrlich, viele ihrer "Auffälligkeiten" fallen doch vor allem deswegen auf, weil wir:
- so fixiert auf unsere Kinder und ihr Verhalten sind,
- Angst davor haben, durch unsere Kinder gesellschaftlich aufzufallen und anzuecken,
- Erwartungen von ihnen und der Welt haben, die aus Ängsten und nicht aus Liebe genährt werden,
- durch sie auf eine gewisse dysfunktionale Situation in unserem Familiensystem hingewiesen werden, die wir ohne ihr Verhalten nicht sehen würden oder könnten,
- durch ihr "So-Sein" auf eine Art berührt werden, die etwas Schmerzhaftes in uns trifft, etwas, was wir nicht fühlen wollen,
- Maßstäbe von richtig und falsch, von gut und schlecht anlegen, die eigentlich nicht der Natur des Menschen entsprechen,
- wir uns in gewisser Weise durch sie verwirklichen wollen und Angst haben, dass unser Wunsch nicht in Erfüllung geht,
- verlernt haben Vertrauen ins Leben und die natürliche Entwicklung zu haben,
- nicht verstehen, wie viel Einfluss unser (Nicht-) Verhalten und das der Gesellschaft auf das Kind hat,
- nicht verstehen, wie der Mensch funktioniert (Gehirn, Bedürfnisse, Nervensystem, Entwicklung, etc.), sondern nur wissen, was wir wissen und gelernt haben. Und das ist nicht immer sehr zwischenmenschlich, veraltet oder falsch überliefert, bis es zu uns kam. 
Es kann sein, dass nicht alle angeführten Aspekte auf dich zutreffen und auch, dass die Liste noch lange nicht vollständig ist. Aber ich denke, du kriegst den Punkt.

Wenn nun aber dein Kind "auffälliges Verhalten" zeigt, dann stellst du dir wohlmöglich die Frage, ob es Hilfe benötigt. Ja, auf jeden Fall. Und je nachdem, wie stark sich dieses Verhalten und die damit einhergehenden Reaktionen des Umfeldes auf die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes auswirken, braucht ihr Hilfe von außen (Therapeuten, Familienberatung, etc.). Aber in allererster Linie braucht dein Kind Hilfe von dir. Denn sowohl mit oder ohne Hilfe durch Expert*innen wird kein Weg daran vorbei führen, dass du dich verändern musst.

Klappt das immer alles und zu jeder Zeit bei mir? Nein! ABER:
Seitdem ich begonnen habe meinen Schuttberg täglich und meist ohne Urlaub, zu betrachten, umzuschichte, zu entrümpeln und zu entsorgen und mich liebevoll und doch oft gnadenlos mit vielen Teilen davon zu beschäftigen, geht es leichter. Und meine Kinder, und die, mit denen ich gearbeitet habe, bekamen zunehmend mehr Luft zum Atmen und Erblühen. Doch es ist egal, ob sie jemals meinen Einsatz erkennen. Denn ich mache es, um selbst ein gutes Leben zu führen und weil es mir wichtig ist, dass sich meine "Dinge" im Leben möglichst weniger Menschen wiederholen müssen, bis Veränderung eintreten kann. Und ich weiß auch, dass sie am Ende ihre eigenen Erkenntnisse daraus ziehen werden. Erkenntnisse, die ich nur bedingt beeinflussen kann. Und ich weiß auch, dass meine Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen und sich meine nicht wiederholen müssen. Dass sie ein völlig anderes, friedvolleres, wertschätzenderes Umfeld erleben, als ich es selbst in meiner Kindheit erlebte. Auch wenn mir viele Sachen, die heute passieren, nicht gefallen und ich wünschte sie noch besser schützen zu können.

Und ich weiß, dass wir drei eine tiefe Verbindung zueinander haben, die ich ohne die Bearbeitung meines Schuttberges ganz sicher niemals hätte zulassen können. Meine Kinder sind so sehr Teil meines Wandels, wie ich Teil ihrer Entwicklung. Und ich darf täglich immer wieder auf die Übungsmatte, um mich noch ein kleines Stück tiefer auf mich und sie einzulassen. Und so finde ich immer mehr Anteile meiner Intuition. Kann erkennen, wie ich mich mit mir und ihnen fühle. Kann erkennen, dass alte Geschichten aufleben, wenn ich mit ihnen bin. Kann immer wieder neu entscheiden. Auch dann, wenn ich mich mal wieder blöd und unachtsam verhalten habe. Denn das bedeutet üben. Und damit wird klar, dass dir all das nicht einfach passieren wird. Es ist eine Entscheidung, die jeden verdamten Tag wieder getroffen werden muss. Eine Entscheidung, Verantwortung für mein Leben zu tragen, für mein Handeln, für meine Wahrnehmung, für meine Gefühle und Bedürfnisse. Und es bedeutet, dass ich die Entscheidung treffen muss, nicht darauf zu warten, dass jemand kommt und mich rettet. Du kannst immer nur bei dir anfangen. Und deshalb ist es so unfair, wenn du an deinen Kindern "herumklempnerst" ohne an dir selbst zu arbeiten. Es ist unfair, weil es das Signal sendet, dass mit dir alles in Ordnung ist, aber mit dem Kind etwas nicht stimmt. Und damit verschiebst du die Verantwortung für Situation nach außen, anstatt erstmal zu schauen, welcher Schuttberg deine Tür blockiert, vor der du möglicherweise schon sehr lange nicht mehr gefegt hast.

Wenn du Unterstützung beim Betrachten und Wegarbeiten deines Schuttberges benötigst, dann freue ich mich auf deine Nachricht.

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