Wenn Wut alles ist, was wir sehen.

Es ist laut im Flur. Als die Erzieherin zu den streitenden Kindern dazu kommt, explodiert gerade einer der beiden Jungs, schubst, schlägt um sich und brüllt wütend "Lass mich!". Das andere Kind fällt und für die Erzieherin ist klar, was hier passiert ist. "Hör auf damit! Warum musst du immer so aggressiv sein?" Das wütende Kind schluckt kurz und wird gleich noch wütender. Es tritt den am Boden liegenden Rucksack, schreit einfach nur ein animalisches Geräusch und rennt dann weg. "Und jetzt rennst du auch noch weg! Bleib gefälligst hier und klärt das vernünftig!", ruft die Erzieherin ihm hinterher. Sie kümmert sich um das am Boden liegende Kind und schüttelt dabei den Kopf. "Immer wieder passiert das. Das kann doch gar nicht sein!"

Ich treffe den Jungen wenig später. Er sitzt in sich gekehrt und traurig auf einer Bank. Die Beine an den Körper gezogen, weit ab von den anderen. Ich setze mich zu ihm und frage, wie es ihm geht. Er spricht nicht. Aber er ist ganz offensichtlich verletzt. Nicht körperlich. Doch in seiner Seele tobt es. Innerlich weint er und ist frustriert. Ich sehe, wie er mit den Tränen kämpft. Eine Zeitlang sitzen wir einfach nur bei einander. Ich spüre, wie er sich immer mehr entspannt und immer wieder verstohlen zu mir herüber schaut. Ich gucke aufmunternd zu ihm und sage ihm, dass ich gehört habe, dass er Stress mit einem anderen Jungen hatte. Plötzlich sprudelt es aus ihm heraus. "Der hat mich bedrängt. Ich hab ihm gesagt, er soll aufhören und mich in Ruhe lassen, aber er hat mich nur ausgelacht und kam noch näher. Er hat es einfach nicht gecheckt! Warum hört er nicht auf mich? Ich hab echt versucht nicht auszurasten, aber er hat mich nicht in Ruhe gelassen. Dann bin ich ausgeflippt und hab mir Platz verschafft. Da ist er auf den Boden geknallt." Stille. Er schaut weg. "Ich weiß, dass ich nicht schubsen darf!", sagt er ganz leise. "Aber wenn das alles nichts bringt? Ich hab ihn versucht zu ignorieren. Nichts! Ich habe Stopp gesagt, so wie ihr Erwachsenen das immer wollt! Aber der checkt das nicht!", mittlerweile hat er verzweifelte Tränen im Gesicht. "Das ist ganz schön scheiße, wenn der andere nicht hört, was?", frage ich ihn. Er nickt. Ich möchte gar nicht wissen, wie viel Angst, Scham und Ohnmachtsgefühl diese Situation bei ihm ausglöst hatte. "Du hast versucht alles richtig zu machen, oder?", frage ich weiter. Wieder nickt er und sieht mich an: "Aber alles, was ihr Erwachsenen seht, ist wie ich ausraste! Ihr kommt immer erst, wenn ich nicht mehr kann und schubse, oder schlage. Ihr seht nicht, wie sehr ich es versuche. Ihr hört doch gar nicht, dass ich euer Stopp benutze, es aber überhaupt nichts bringt. Für alle hier bin ich doch nur der, der immer so schnell ausflippt. Ich will das gar nicht! Aber das interessiert euch doch überhaupt gar nicht. Ihr beschimpft mich, nennt mich aggressiv und glaubt sowieso nur, dass ich immer Schuld habe. Aber dass er mir ständig an die Hose geht und nicht auf mein Stopp hört, das sieht niemand." Er zieht wieder die Beine ganz dicht an sich heran. "Da musst du ganz schön was aushalten. Das ist nicht gut. Erst geht der Junge immer wieder über deine Grenzen und dann auch noch wir Erwachsenen, in dem wir nicht die ganze Situation sehen. Das ist nicht fair. Das tut sicher sehr weh so behandelt zu werden." Er sieht mich an, als hätte ihn zum ersten Mal wirklich jemand gesehen.



Wann bemühen wir uns Erwachsenen wirklich das zu sehen, was passiert ist? Das ganze Bild, nicht nur, was wir sehen wollen! Warum verstehen wir Wut nicht als Zeichen der potenziellen Hilflosigkeit und Grenzwahrung? Kinder reagieren nicht wütend, weil sie Lust darauf haben, sie sind schließlich keine Psychopathen. Sie sind wütend, weil ihre Grenzen verletzt werden und sie sich nicht anders zu helfen wissen, als sich körperlich zu zeigen. Im obengenannten Beispiel stand die Körperlichkeit dafür sich selbst wieder Raum zu schaffen und den anderen auf Abstand zu bekommen. Das ist sehr vernünftig. Wenn auch nicht ungefährlich. Wir Erwachsenen, und vor allem viele im sozialen Bereich haben ein großes Problem mit Wut und Aggression. Da müssen wir in erster Linie ran. Das ist unsere Verantwortung. Denn Wut und Aggression machen uns Angst, sie dürfen nicht sein. Aber sie gehören zu unserer Natur. Nur weil wir und die Generationen vor uns einen schädlichen Umgang mit Wut gelernt haben, dürfen wir diese überlebenswichtigen Reaktionen unserer Kinder nicht ebenfalls so einschränken, wie wir es erlebt haben. Ist es ok andere Menschen zu verletzen? Ganz klar: Nein. Doch was wir Erwachsenen oft nicht sehen wollen ist, wie oft Kinder Ohnmachtsgefühlen ausgeliefert sind, wie oft sie sich bemühen gesellschaftskonform zu reagieren und wie oft wir über die Grenzen der Kinder gehen, im Namen der Gewaltfreiheit und uns dann wundern, dass sie keine gelingenden Strategien entwickeln und so reagieren müssen, wie die beiden oben beschriebenen Jungs, die beide Grenzverletzungen erfahren haben.

Ich möchte das nicht mehr weiter tragen. Das muss aufhören. Wir alle haben ein Recht auf gewaltfreies Leben. Dass dazu eben auch Sprache und Psyche gehören und nicht nur die körperliche Ebene und dass solche Situationen, wie sie oben beschrieben sind, Ursachen haben und wir keine parteilichen Richter sind, dass müssen wir auch heute noch lernen. Für eine bessere Kindheit, für eine bessere und gewaltfreiere Welt. Es liegt in unserer Hand. Lasst uns damit immer wieder und jeden Tag brechen.

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