Eine Frage der Perspektive...

Viele Eltern, mit denen ich mich unterhalte, aber auch viele Pädagog*innen, mit denen ich täglich zusammen komme, reden darüber welches Problem ein Kind hat oder macht. Auch mir passiert es wirklich oft, dass mein Kopf sich mit der Frage beschäftigt, wie ich meinen Kindern helfen kann "stärker", "selbstbewusster", oder "verantwortungsbewusster" zu werden, als sie es gerade sind. Das bedeutet, dass ich dann oft darauf schaue, was sie noch nicht genau so entwickelt haben, wie ich es für richtig oder erstrebenswert halte. Und dann kommen mir glücklicherweise immer häufiger andere Fragen:

Und es beginnt in mir zu rattern. Was, wenn mein Kind genau richtig ist? Dieser Frage bin ich bereits so oft begegnet und immer dann habe ich leicht dahin gesagt, dass das doch ganz klar ist: "Ich liebe meine Kinder bedingungslos, so wie es ihnen zusteht!" Und dann kam der nächste Moment, in dem etwas nicht so lief, wie ich es wollte, in dem ein Verhalten gezeigt wurde, das ich nicht verstand oder ablehnte. Darauf zu achten, dass es dann mit der "bedingungslosen Liebe" irgendwie nicht so weit her ist, das wollte ich mir nie so richtig eingestehen. Es gab Zeiten, in denen ich dann bewertete, anfing am Verhalten des Kindes rumzuschrauben und all die Ursachen nur in ihm zu sehen. Heute weiß ich, dass das nur ein Teil der Wahrheit ist. Wie oft sagst du, dass dein Kind ok ist? Und wie wahrhaftig lebst du das? In den "guten Zeiten" ist das nicht schwer. Fast ein Selbstläufer. Aber wenn es knirscht, eng wird, herausfordernd läuft, was ist dann? Ich kenne niemanden, der immer absolut klar und liebend ist, in jeder Situation, egal was passiert. Auch heute rutsche ich regelmäßig in diese Schiene, gebe meinem Kind die Verantwortung, versuche es zu stärken, fit zu machen, optimiere, damit es ein tolles Leben führen wird. Mich habe ich viel zu lange aus dieser Rechnung rausgenommen. Die Rolle des Vaters ebenso und all die anderen Menschen, die meine Kinder in ihren Leben begleiten. Kindliches Lernen funktioniert, vor allem in den ersten prägenden Lebensjahren, aber hauptsächlich dadurch, dass sie sich das Verhalten anderer wichtiger Personen ansehen und es auf ihr Verhalten anwenden (Lernen am Modell/ Bandura). An anderer Stelle schrieb ich bereits darüber, dass unsere Vorbildrolle, unser Handeln lauter spricht als unsere Worte. Das bedeutet, ein Teil der Wahrnehmung und des kindlichen Verhaltens liegt in der Person des Kindes begründet. In seinen Genen (Dispositionen), in seiner physischen und neuronalen Individualität. Ein großer Teil liegt jedoch in seiner Sozialisation, also dem Einfluss der Umgebung. Das heißt, so wie ein Kind "funktioniert" liegt in seiner Persönlichkeit und Physis und zu einem weiteren, nicht absprechbaren Teil daran, wie Bezugspersonen "funktionieren". Punkt! Das ist harter Tobak. Bin ich jetzt schuld? Das ist eine Frage, die mich und vielleicht dich an der einen oder anderen Stelle trifft. Es geht nicht um Schuld. Es geht um Verantwortung. Worauf ich heute hinaus möchte, ist folgendes: Wenn ich den oben genannten Fragen folge, und wirklich versuche diese Brille aufzusetzen und anzunehmen, dann muss ich feststellen, dass einiges in meinem Kind einfach nicht veränderbar ist. Deshalb macht es wenig Sinn daran "herumzudoktern". Ich möchte es annehmen. Anderes ist gar nicht das Problem des Kindes, sondern einfach "nur" seine Reaktion auf das beobachtete und interpretierte Verhalten seiner Umgebung und damit liegt es in meiner Verantwortung als Entwicklungsbegleiterin und in meinem Fall auch als Mutter, dass ich es sein lasse, wie es ist. Und noch wichtiger, dass ich meine Anteile zu mir zurückhole und schaue, was daran mein Verhalten ist. 

Vielleicht ein Beispiel, damit es einfacher zu greifen ist:
Eines meiner Kinder ist schnell frustriert, ist lauter als das andere, motorisch sehr aktiv und kommt schnell an seine Grenzen. Es hat eine relativ schnelle Stressreaktion und neigt in diesen Situationen zu abwehrendem Verhalten, mittlerweile auch immer wieder mal zu Fluchtverhalten. Einige Dinge daran kann ich nicht von außen verändern. Er ist so, wie er ist. Seine Amygdala reagiert schnell auf zu viele Reize, was ihn einfach schnell an seine Belastungsgrenze bringt. Doch wie wir darauf reagiert haben und heute noch reagieren, das ist, was wir beeinflussen konnten und können. Ich kann zum Beispiel auch Einfluss darauf nehmen, wie die Reizbelastung über den Tag verteilt ist, so dass er reizärmere Phasen hat, um runterzufahren oder sich bewegt, damit das überschüssige Cortisol seinen Körper verlassen kann. In der Schule kann auf seine Wahrnehmung eingegangen werden. Dafür muss jedoch Wissen her und eine reflektierte Haltung meines Verhaltens und meiner Reaktionen und Belastungsempfindungen. 
Lange Zeit (und auch oft jetzt noch) kam der Impuls, dass seine Reaktionen nicht richtig sind. Doch das ist Quatsch. Er hat sich nicht ausgesucht mit diesen Dispositionen zur Welt zu kommen, dieses Nervensystem zu haben. Er hat sich auch nicht ausgesucht, in welche Familie er geboren wurde und wie wir auf ihn reagiert haben und es heute noch tun. Er hat sich all die Menschen in seinem Leben nicht ausgesucht. Er "funktioniert" so, wie er es tut und er ist großartig so. Und doch eckt er damit an. Mich bringt das alles oft auf die Palme. Menschen in Bildungsinstitutionen haben nicht immer Wissen oder Zeit oder die nötige Haltung (das ist keine Anklage, nur eine Feststellung), um damit umzugehen. Andere Eltern stören sich daran und wollen ihre Kinder "schützen" und verbieten den Umgang. Meine Strategie mit diesen äußeren Reaktionen umzugehen ist Angst und Aktivismus. Natürlich möchte ich ihm helfen, sich in dieser Welt zurecht zu finden und mit seinen und den Reaktionen anderer gut umzugehen. All zu oft rutsche ich jedoch eben in diesen Aktionismus "Ich muss ihm helfen! Ich muss ihn verändern!". Und zack ist meine Brille nicht mehr die wertschätzende "du bist in Ordnung und ich liebe dich" Brille. Sie verwandelt sich in die "es gibt viele Gründe, die dazu führen, dass ich will, dass du anders bist" Brille. Diese Erkenntnis tut weh. Weil sie zeigt, dass mein Bewertungsschema, das der Umgebung und vor allem meine Angst um mein Kind die Beweggründe sind. Nicht die Liebe und das Vertrauen, die meine Weggefährten in der Begleitung von Menschen, insbesondere meiner eigenen Kinder, sein sollen. Das alles bedeutet nicht, dass ich ganz "Laissez faire" mein Kind durch die Welt wüten lasse. Ich möchte, dass er lernt mit seinem eigenen Nervensystem gut leben zu können, dass er lernt sich auf eine gesunde Art in die Gesellschaft einzupassen und sich selbst zu mögen. Das erreiche ich aber nicht, wenn er immer wieder durch mein Verhalten und das der Umgebung die Antwort bekommt "So wie du bist, bist du nicht richtig!". Du siehst, nur weil ich etwas weiß und die Perspektive wechseln kann, heißt das noch lange nicht, dass ich immer richtig reagiere. Aber ich entscheide mich jeden Tag und jede einzelne Situation mit ihm dafür, wie ich auf ihn reagieren möchte. Und genau das darf immer öfter bewusst gelingen. Denn die "blöden Reaktionen" passieren mir, wenn ich unbewusst bin. Ich darf mich selbst immer wieder daran erinnern, dass ich Verantwortung für meine Themen, meine Ängste und Sorgen, meine Reaktionen übernehmen darf, bevor ich an jemand anderem "rumschraube". Denn oft ist es nicht nur ein zu viel des Falschen, sondern auch ein zu wenig des Richtigen. Das bedeutet, wenn ich "gesunde" und der Umwelt helfe, dann kann er sich entspannen und sein Selbst positiv aufbauen. Dann kann er zur Ruhe kommen. Wenn seine Umwelt und ich ihn nicht als falsch anerkennen, sondern dafür sorgen können, dass er, mit seinen individuellen Seiten, in unsere Welt passt, dann wird er entspannen können. Dafür stehe ich jeden Morgen auf. Dafür mache ich Fehler, um zu lernen. Dafür beginne ich bei mir selbst. Bei meinem Verhalten, meiner Wahrnehmungsfähigkeit, meinem Stresslevel, meinem Wissen, meiner Erwartung, meiner Biografie. Um mich zu entwickeln und für ihn ein gutes Vorbild zu sein.

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