Wie beeinflusst meine Vergangenheit meine heutige Wahrnehmung?

In meinem Unterricht nutze ich gern zum Einstieg in ein neues Thema die Biografiearbeit. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie schwer es einigen Studierenden fällt, sich damit auseinanderzusetzen welche Einflüsse ihre eigene Geschichte für ihr heutiges Handeln in der Praxis hat. Einigen ist das klar und sie erforschen diesen Zusammenhang interessiert. Doch dem Großteil ergeht es nicht so. Sie verstehen manchmal ohne Anleitung gar nicht, dass ihr früheres Erleben und all ihre Erfahrungen ihr aktuelles Verhalten steuern. Doch gerade der Blick auf diesen Bereich des Lebens ist so wichtig für eine bewusste Entwicklungsbegleitung. Ein Beispiel: wenn ich als Kind immer wieder aus meiner Umwelt erfahren habe, dass erst die Arbeit erledigt werden muss und ich mich dann erst dem Vergnügen widmen darf, dann kann das (wenn es unreflektiert bleibt) ein Leitsatz meines Lebens sein. Und dieser Leitsatz ist dann nicht nur bezogen auf mein eigenes Verhalten, sondern auch auf das der Kinder, die ich begleite. Das bedeutet, dass ich dann von den Kindern erwarte, dass sie sich nicht dem (zweckfreiem) Spiel zu wenden, sondern erst etwas für dieses Vergnügen leisten müssen. In diesem Fall ist es vielleicht sogar noch in gewisser Weise sinnvoll, den Wunsch nach Lustgewinn (psychisches Grundbedürfnis) aufzuschieben und erst das Unliebsame zu erledigen. Denn sein wir mal ehrlich: wie schnell verfällt man den schönen Dingen und hat dann immer noch keine Lust auf das Unliebsame?! Doch wenn man erstmal über seinen Schatten gesprungen ist und das Unliebsame erledigt hat, dann quält es nicht mehr unser schlechtes Gewissen und wir freuen uns, dass wir uns nun mit dem Lustbringenden belohnen können. So funktioniert es zumindest für die meisten Erwachsenen, weil wir es in dieser Form gelernt haben. Meist sehr mühsam und unfreiwillig. Bei Kindern ist das schwieriger. Natürlich wäre es schön und für das Erwachsenenleben sinnvoll, wenn unsere Kinder dieses Prinzip freudig annehmen würden. Tun sie aber meistens nicht, oder? Ist auch kein Wunder! Vor allem junge Kinder können Belohnungen gar nicht aufschieben. Sie wollen die Dinge "JETZT SOFORT!!!". In ihren Gehirnen besteht nur eine begrenzte Kapazität an, nennen wir es "Willenskraft", um Bedürfnisse aufzuschieben. Das liegt hauptsächlich an der Arbeitsweise ihres Gehirns. Sie haben beispielsweise noch keinen konkreten Zeitüberblick (die kognitive Denkleistung ist hierfür noch nicht konkretisiert), sie sind deutlich stärker durch ihre Affekte gesteuert. "Was ich sehe, das will ich und zwar sofort!" Und ganz maßgeblich, ihr präfrontaler Cortex (Sitz der logischen Überlegungen und Entscheidungen sowie der Moral) ist (je nach Alter) noch nicht, oder nur schwach ausgeprägt. Dieser Hirnbereich kann (bis zu einem gewissen Grad) Bedürfnisse priorisieren und dafür sorgen, dass das Prinzip: wenn ich die Schoki jetzt nicht esse, bekomme ich ein zweites Stück, wenn Mama wiederkommt, Wirkung zeigen kann. Erwarten wir dann meist zu viel von den Kindern? Wahrscheinlich! Natürlich brauchen sie auch unsere Begleitung und Hilfe dabei solche Dinge zu lernen. Aber eben geduldig, zur richtigen Zeit in der richtigen Dosierung. Für ein Kind mit zwei Jahren ist das eine große Kraftanstrengung und fast nicht länger leistbar, als bis zu dem Zeitpunkt, den das Kind klar erkennen kann. Mit 6 Jahren sollte das Kind solchen Bedürfnisaufschub durchaus in vielen Fällen leisten können. Das bedeutet jedoch nicht, dass das immer klappt und dann abgeschlossen ist. Überleg doch mal, wo du in deinem eigenen Leben dem sofortigen Lustgewinn nachgibst. Das ist ein Aspekt, weshalb so viele Menschen Dinge bis zum letzten Moment aufschieben (Prokrastination), anstatt es gleich zu erledigen. Ein Grund dafür ist die Erschöpfung unserer Willenskraft. 

Doch ich bin etwas vom Weg abgekommen. Es ging um Biografiearbeit! 🤭 Neben den alten Überzeugungen, die wir als Kinder aus unserer Umgebung aufgenommen haben, spielen auch die Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit unseren Werten eine große Rolle, um unser Verhalten im Alltag zu verstehen. Wir sind immer involviert in die Bewertung des Verhaltens der anderen. Wenn ich mich "daneben benehme", dann führt das bei einer Person dazu, dass ich Ärger mit ihr bekomme. Und bei einer anderen Person, die logischerweise nicht die selben Erfahrungen und Wertvorstellungen hat, wie Person 1, führt mein Verhalten zu Desinteresse oder Belustigung. Übertragen auf eine Situation mit einem Kind: meine Kollegin bewertet das Verhalten eines Kindes unserer Gruppe als "unmöglich". Ich hingegen fühle mich davon in keiner Form gestört oder angegriffen, sondern finde das Kinderverhalten sogar witzig und bestaune es. Und genau deshalb ist die Auseinandersetzung mit unserer Biografie und die regelmäßige Selbstreflexion so unerlässlich!

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