Wenn ich vor Jahren von Menschen las, die über "gute Erziehung" schrieben, über entwicklungsgerechten Umgang mit Kindern, dann hatte ich oft ein furchtbar schlechtes Gefühl. Ich dachte, diese Menschen wissen so viel mehr als ich und leben ganz sicher ein furchtbar gutes und harmonsiches Leben mit ihren Familien. So selten sah man nur Einblicke in deren Realitäten, dass sie die gleichen Herausforderungen haben, Probleme und Ängste. Dass auch ihnen nicht immer alles leicht von der Hand geht. Ich machte mir mein schlechtes Gewissen selbst, weil ich den Anspruch an mich hatte, all mein Wissen und Können darin zu stecken alles perfekt umsetzen zu wollen. Du kannst Dir vorstellen, dass ich damit immer wieder ordentlich auf die Nase gefallen bin. Da lief nichts rund, ich fühlte mich manchmal so machtlos den Weinkrämpfen meines Säuglings oder den Wutanfällen meines Kitakindes ausgeliefert. Und so geht es mir auch heute immer wieder mal. Dazu beigetragen, dass es sich nicht mehr so furchtbar anfühlt, hat die Erkenntnis, dass auch diese Menschen alle nur Menschen sind. Menschen, die Fehler machen, genervt sind, wütend werden, müde und erschöpft sind. Jetzt sagst Du vielleicht: "Wow, das ist mal eine Erkenntnis! Pah, das weiß doch jede/r!" Mag sein. In meinem Wahn habe ich das gewusst und mich trotzdem jedes Mal wieder von diesem Gefühl des Scheiterns überfahren lassen. Und ich sage Dir, es geht mir leider immernoch oft so. Doch dann gelingt es mir immer öfter, mich dabei zu ertappen und mich neu zu entscheiden. Dann spiele ich Münchhausen und ziehe mich selbst aus dem Morast wieder heraus! Auch das ist eine für mich wichtige Erkenntnis: Ich habe viel mehr selbst in der Hand, als ich oftmals glaube. Quasi immer fällt hier meine Bewertung der Dinge, die mir scheinbar "passieren", darunter. Und genau aus diesen Gründen möchte ich heute drei Säulen meines Alltags mit Dir teilen, die mir in den vergangenen Jahren immer wieder geholfen haben, mit dem Leben mit meiner Familie und mir gelingender umzugehen und die ich auch aus Sicht von Pädagogik an alle weitergeben möchte, die mit Kindern oder Jugendlichen leben und/oder arbeiten.
1) verstehen wollen
2) "Wissen schafft Orientierung, Orientierung schafft Sicherheit"
3) Selbstreflexion
Was meine ich mit Punkt 1) "verstehen wollen"? Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt, weshalb meine Kinder sich auf bestimmte Weise verhalten. Es gab Situationen, in denen ich so wütend (meist durch alte Erinnerungen und Übermüdung) war, dass ich glaubte, dass das aus "Trotz" geschieht und mein Kind das nur macht, um mir eins auszuwischen, mich zu ärgern. Da half manchmal auch nicht, dass ich im Studium gelernt hatte, dass jedes kindliche Verhalten seine Gründe hat. Um ehrlich zu sein, wenn ich die Scheuklappen aufsetzte, dann half das kein Stück. Mittlerweile weiß ich, dass mein Gehirn gar nicht in der Lage war auf diesen kognitiven Bereich zurückzugreifen, weil mein präfrontaler Cortex ausgeschaltet war und mein gestresstes Stammhirn dafür sorgte, dass ich im Überlebensmodus funktionierte. Und somit einfach die Connection zu meinem logischen und moralischen Denkbereich komplett abgeschnitten war. Hatte ich mich wieder beruhigt, dann sah ich die Dinge ganz anders. Ich schämte mich für meine Wut oder Ungeduld und dass ich nicht besser auf meine Reaktionen aufgepasst hatte. In mir machte sich Schuld breit und ein verflixter Teufelskreis begann ins Rollen zu kommen. Bis ich irgendwann an dem Punkt war, mich von alldem nicht mehr überrollen lassen zu wollen. Also natürlich war das nicht EIN Punkt und es klappte leider auch nicht einfach so, weil ich die Entscheidung traf damit anders umgehen zu wollen. Es war eher ein Prozess des Übens, so wie wir laufen übten als wir klein waren, oder sprechen. Ich beschloss, in einem ruhigeren Moment, in dem mein Cortex funktionierte, dass ich mir aus meinem Wissen eine Art Mantra bastelte. Ich wollte mich immer wieder neu daran erinnern, dass absolut jedes Verhalten einen Sinn hat. Ich entschied also, dass ich das Verhalten erkennen und verstehen wollte. Was vordergründig dazu wichtig war, erfährst Du unter Punkt 2. Was ich aber über die Zeit durch dieses "verstehen wollen" gelernt habe ist so über alle Maßen wundervoll. Ich lernte weniger wütend zu werden, nicht mehr alles, was meine Kinder (oder andere Personen) taten total persönlich zu nehmen. Ich lernte meine Kinder besser kennen, konnte herausfinden, welche Bedürfnisse sich hinter ihrem Verhalten verbargen und lernte sie darin zu begleiten. Denn ich verstand, dass es auch ihnen keinen Spaß machte, sich so zu verhalten. Sie hatten nur noch keine besseren Strategien entwickelt, um auf ihre Bedürfnisse hinzuweisen. Ich kann sagen, dass unser Familienleben bestimmt nicht unbedingt harmonisch geworden ist, oder leicht. Aber ich kann sagen, dass ich wundervolle Kinder habe, zu denen ich absolut tragfähige Beziehungen habe, weil sie die Erfahrung machen konnten, dass ich mir die Mühe mache zu verstehen, was sie nicht gelingend genug übermitteln können. Verstehen wollen, ist für mich zur Quintessenz meines Zusammenlebens mit den Kindern (und großen, erwachsenen Kindermenschen) geworden.
Um "verstehen zu können" braucht es Wissen (2). Nur wenn ich verstehe, welche Bedürfnisse ein Mensch hat und wie sie sich ausdrücken und in Erscheinung treten, kann ich lernen sie zu erkennen und dabei zu helfen, sie zu befriedigen. Wenn ich verstehe, welches Verhalten und Können "typisch" für bestimmte Altersspannen sind, dann fällt es mir leichter auf die Kinder einzugehen, sie nicht zu überfordern, nur weil ich die Hoffnung habe, dass sie schon viel "erwachsener" reagieren können. Gerade dann, wenn ich mich unsicher oder überfordert gefühlt habe (und auch das passiert noch echt oft!), dann fällt mir ein toller Satz ein, den ich einmal für eine Unterrichtsvorbereitung (zum Thema Rituale im Kindesalter) gelesen habe: "Wissen schafft Orientierung und Orientierung schafft Sicherheit!" (dieser Satz begegnete mir vor einigen Wochen bei einer ganz wundervollen Frau, Kati Bohnet; Siehe Link unten)
Wenn ich überfordert bin, dann fehlen mir Orientierung und Sicherheit (psychische Grundbedürfnisse) und mein Stresslevel steigt. Die Chance weiter in die Überforderung zu rutschen steigt damit ebenfalls und zack, ist das Stammhirn wieder im Überlebensmodus. Aber genau da will ich immer seltener hin! Und Du vielleicht auch. Sicherheit und Orientierung finde ich also darüber, dass ich verstehe, was um mich herum passiert (Salutogenese- das Konzept der Gesunderhaltung von Antonovsky; hierzu wirst Du bald auch einen Artikel finden). Und für dieses Verstehen brauche ich Kenntnisse über die Phänomene, die da gerade ablaufen: ich brauche also Wissen. Gut, dass Du gerade auf diesem Blog bist, der dazu beitragen möchte, Wissen und Verstehen leicht verstehen und anwenden zu können.
Und was die letzte der heutigen Säulen betrifft, sie findet sich bereits in den ersten beiden, ist jedoch so essentiell, dass sie unbedingt noch einmal eigenständig erwähnt werden will: die Selbstreflexion. Für mich mein tägliches Brot (auch wenn ich weiß, dass ich noch unfassbar viele blinde Flecken habe!). Selbstreflexion ist in meinen Augen für alle Menschen, die Kontakt mit anderen Menschen haben, wichtig. Aber meine Erfahrung sagt mir, dass sie von vielen vermieden wird. Und auch das hat gute Gründe, über die hier nicht spekuliert werden muss. Für mich ist Selbstreflexion allerdings absolut wichtig geworden und ich versuche, meine Kinder darin zu begleiten. Selbstreflexion bedeutet für mich, mir darüber bewusst zu sein, dass das was ich wahrnehme und als meine Realität betrachte, nicht die Wirklichkeit ist, sondern immer dadurch geprägt wird, wie ich aufgewachsen bin, welche Glaubenssätze ich über mich und die Welt habe, in welcher Stimmung ich gerade bin und vielem mehr. Das bedeutet, dass ich immer nur einen sehr kleinen, absolut subjektiv bewerteten Ausschnitt der Welt und der Menschen erfahre. Um jedoch in guten und gelingenden Beziehungen zu sein, musste ich mich selbst besser kennenlernen. Ich musste herausfinden, was meine Wahrnehmung beeinflusst, dass es immer auch andere Bewertungen und Perspektiven gibt und dass andere Menschen die selbe Situation komplett anders erleben als ich. Ich durfte mich in wundervoller und manchmal auch schmerzhafter Weise (mit toller Begleitung an meiner Seite) um meine Geschichte und meine Reaktionsmuster kümmern. Immer wieder meine Deutungen zu hinterfragen, Biografiearbeit zu leisten (meine Studis höre ich schon wieder stöhnen! 😁) und herauszufinden, was das Erfahrene noch bedeuten könnte. Mittlerweile behaupten liebe Freunde, dass ich das zu meinem Hobby gemacht habe. Vielleicht stimmt das sogar. Denn ich habe erfahren können, wie massiv uns alle unsere Geschichte darin beeinflusst, wie wir die Welt um uns herum beurteilen und uns in ihr bewegen. Wie sehr mein Charakter (den ich mir nicht ausgesucht habe) mein Leben mitbestimmt. Welche Rolle meine Stimmung dafür spielt, wie ich die Welt gerade sehe. Ich habe gelernt mich nicht zu wichtig zu nehmen und es war ein langer Prozess, mir selbst zu erlauben, dass ich versuche immer bei mir selbst zu beginnen. Was ist meine Verantwortung? Welchen Einfluss übe ich gerade aus welchem Grund auf meine Umwelt, meine Kinder aus? Was macht ein Verhalten mit mir? Welche Gefühle werden dadurch in mir ausgelöst und was wollen diese Gefühle von mir.
Ich kann Dir sagen, ich bin ein großer Fan davon geworden, weil ich lernen konnte, dass vieles, was meine Kinder betrifft, eigentlich nur meine Urteile über sie und ihr Verhalten sind. Erst seitdem mir das so richtig klar ist, kann ich dafür Verantwortung übernehmen und mich selbst darum kümmern, anstatt zu sagen, dass ich wütend bin, weil sie etwas getan haben. Ja, mein Urteil über ihr Verhalten hat ein bestimmtes Gefühl in mir ausgelöst (bei mir ist es oft Ohnmacht/ Hilflosigkeit), das dann wiederum Wut gezündet hat. Es ist also mein Ding und hat mit ihnen nur marginal zu tun.
Es gibt natürlich noch mehr wichtige Aspekte: Beziehung und Verbundenheit, die psychischen Grundbedürfnisse, die Überzeugung, dass im Leben mehr geht, als ich immer glaubte und absolut wichtig: dass ich maßgeblich mitbestimme, wie meine Wirklichkeit aussieht. Dazu erfährst Du nach und nach ganz sicher auch mehr hier auf "beziehungsweise-kind". Was ich aber abschließend sagen kann: Übernehme ich Verantwortung für meine Wahrnehmung, mein Denken und Handeln und eben auch mein Wissen sowie meine Entscheidungen "verstehen zu wollen", trägt dies massiv dazu bei, dass die Beziehungen zu mir selbst und zu den Menschen_Kindern um mich herum entspannen können. Sie sind nicht mehr vordergründig in der Verantwortung. Zudem erleben sie mein Interesse und meinen Willen in ihre Welt einzutauchen und sie zu unterstützen, damit sie sich gesehen, verstanden und geliebt fühlen können. Und das ist ein wunderbarer Beitrag zu "aktivem Umweltschutz" (Veit Lindau) und einer freundlicheren und friedvolleren Welt.
Kati Bohnet: https://www.kb-berlin.de/ und erlebe ihren "helpers circle", ihre tollen SOS- Übungen und ihr grandioses Wissen zum Nervensystem. Viel Spaß dabei!
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